Weit weg, einfach nur weit weg – hatte es ihr durch den Kopf gehämmert
Rauschend schlugen die Wellen gen Strand. Die Luft war heiß und salzig. Der Geruch des Meeres strömte durch Friedas Nase. Ihr Körper war noch nass vom Schwimmen. Ihr Blick wanderte durch die Bucht. Felsen, Steine und hier vor ihr ein kleiner, flacher Abschnitt mit Sand. Kaum Menschen zu sehen. Das saftige Grün begann schon wenige Meter hinter dem Meeresufer. Und dann gleich Bäume, einige Palmen und andere Laubgehölze, deren Namen Frieda nicht bekannt waren. Dazwischen diese einfachen Holzhütten mit Strohdach für die Touristen. Die Einheimischen waren alle sehr freundlich gewesen und der Ausblick hier wie aus einem Bilderbuch der Träume. Nur sie, Frieda C. Sangbrecht konnte das alles nicht entsprechend genießen. Gut, sie war nicht mehr verzweifelt und sie hatte auch die Tabletten, die ihr der Neurologe verschrieben hatte, schon fast wieder abgesetzt, ja zumindest reduziert, weil sie das Gefühl hatte, diese würden ihren Verstand angreifen, ihre Eigenart verderben. Ihre Gefühle wollte sie behalten, das war ihr wichtig, wie groß die Qual auch noch werden sollte.
„Ja, von Qualen konnte man laut reden und von Folter, ja – auch wenn gar keine Vollzugsanstalt von außen zu sehen war. Es ist ‚die Grausamkeit des eigenen Herzens‘, die wie tausend Klammern in Brust und Bauch und Kopf zu sitzen scheint und immer fester und fester zusammendrückt, bis alle Begrenztheit zutage tritt und alle Auswege verstellt sind.“ Unzählige Beschreibungen und Darstellungen dieser Art geistern durch Friedas Kopf.
Sie hatte sich an einem guten Tag, an dem sie die Kraft fand, die Wohnung zu verlassen, in ein Reisebüro begeben und ohne viel zu überlegen, die nächstbeste Südseedestination gebucht.
„Weit weg, einfach nur weit weg“, hatte es ihr durch den Kopf gehämmert, damals, vorige Woche. Beim andauernden Langstreckenflug war ihr dann erst bewusst geworden, dass das Mittelmeer auch ihren Zweck erfüllt hätte. Aber gut, es war halt so eine Idee gewesen, die in ‚einfach weg und schnell vergessen‘ ihren Ursprung fand. Sie hatte es so entschieden und jetzt war sie eben hier. Das war in Ordnung und sie merkte, dass sie auch ohne diese Tabletten nicht sterben musste und das war jetzt schon ein wirklich spürbarer Lichtblick.
„Wenigstens was“, dachte sie, „ich lebe ja noch. Was für ein Wunder. Vor ein paar Wochen hätte ich keinen Silberling mehr auf mich gewettet.“
Anmutige, dunkelhäutige Männer, die sie in ein Gespräch verwickeln wollten, ließ sie abblitzen. Betäubende Animation zur Ablenkung von der Wirklichkeit wollte sie vermeiden. Selbst bei einem sympathischen, deutschsprachigen Pärchen, das in einem der Nachbarhütten ihren Urlaub zu verbringen schien, hatte sie bis jetzt keine Ambitionen für einen Urlaubskontakt erkennen lassen. Es war gar nicht ihr Anliegen, ganz allein zu sein. Es war nur so, dass sie nicht wusste, was sie Fremden so erzählen sollte. Früher, ja, da war ihr das ein Leichtes. Ersten war ihr Selbstwertgefühl in luftiger Höhe, andererseits gab es natürlich durch ihr berufliches Engagement eine Unzahl von Anekdoten, die sie ganz leicht zum Besten geben konnte. Aber jetzt? Sollte sie jammern? Sollte sie lügen? Sollte sie …? Was hätte sie sagen können?
„Wer bin ich überhaupt, ohne meinen Beruf? Wer bin ich jetzt, was mache ich hier? Erholung? Wohl kaum. Oder doch? Aber wovon? Von der Arbeit oder von der Kündigung? Und dann? Und wo soll das hinführen? Wie kann ich mich nun beschreiben, woran soll ich mich festhalten?
„Ja, ich bin Außenbeauftragte von WWHI, Softwarelobbyistin und Chefverkäuferin in den Vereinigten Staaten. Ich bin unterwegs in den coolsten Großstädten von London bis L.A. und kenne auch sehr bedeutende und vor allem erfolgreiche Leute. Ja, das bin ich und was machen Sie?“
So konnte sie reden und schnellstens wortgewandt und stressfrei attraktive Menschen anquatschen und alles lief dann weiter wie von selbst. Sie war immer so zufrieden mit sich. Und jetzt? Bitte … wer war sie jetzt?
„Wer ist man, wenn man keinen guten Job hat?“